Der Werwolf von London (1935)

Verfasst von Bloody Jörg am 1. Mai 2019

Schon einige Zeit, bevor der berühmte “Wolf Man” Lon Chaney Jr. seinen Ruhm prägte und das Untergenre des Lykanthropie-Horrors maßgeblich beeinflusste, gingen bereits Werwölfe auf Reisen, um sich jede Nacht bei Vollmond ein Menschlein zu schnappen. Stuart Walkers “Werewolf of London” vermochte noch nichts dergleichen nachhaltig zu beeinflussen. Sicherlich mit einem gewissen Anspruchsdenken behaftet, das sieht man dem Endresultat an, war dieses Unternehmen Werwolf dann doch zum Scheitern verurteilt - aus nachvollziehbaren Gründen.

Aus den Konsequenzen belehrt, die “Frankenstein” und “Dracula” ereilt hatten, kommt der vorliegende Werwolfsfilm bezüglich der konventionell-religiösen Strömung in seiner Konzeption recht defensiv daher. Bei der Geschichte um einem Mann, der sich in einen Werwolf verwandelt, bestand nämlich eine damals nicht zu unterschätzende Gefahr: Man hatte sich nur zu leicht der Blasphemie an Gottes Schaffen schuldig machen können. Sich verschmelzende Grenzen zwischen Pflanzen-, Tier- und Menschenreich? Der Mensch würde seiner einzigartigen Stellung in der Natur beraubt, ließe man ihn zu einem Tier mutieren. Das schizophrene Wesen der Werwolfsidee kam ja schon bei “Dr. Jekyll und Mr. Hyde” erfolgreich zum Einsatz, nur eben mit einem entscheidenden Unterschied - die Mutation erfolgte dort einzig und allein innerhalb der menschlichen Gene. Aber wie sollte man dieses Problem nun bei einer Geschichte umgehen, die sich um nichts anderes dreht als das triebgesteuerte “Es” des Menschen, das ihn mit seinen animalischen Ursprüngen verbindet?

Ganz einfach: Man verarbeitet die ganze Diskussion im Drehbuch, reflektiert sie dort und stellt sich auf die kritische Seite. Das Spiel mit dem Feuer ist gefährlich, lautet die Aussage. So ist die Ursache der Verwandlung bei Dr. Wilfried Glendon (Henry Hull) reiner Forscherdrang. Die Schuld wird auf seine Schultern gelegt, denn er hat sein Schicksal ganz allein zu verantworten - im Gegensatz zu Larry Talbot, denn dessen Geschichte umgibt eine mythologische, keine wissenschaftliche Aura. Talbot wurde ohne eigenes Verschulden in einen Werwolf verwandelt.

Das Drehbuch basiert also auf einem Mad Scientist-Ansatz, der möglicherweise zurückzuführen ist auf den Umstand, dass niemand Gottes Hand unterstellen wollte, sie würde menschliche und tierische Gene vermischen, denn das wäre ein Unding gewesen. Da ist es doch einfacher, alles dem Menschen in die Schuhe zu schieben, denn der ist nachweislich fehlbar. So weit, so gut... nur stellen sich dadurch mehrere Probleme, die dafür gesorgt haben, dass der “Werewolf of London” weder damals noch heute dem “Wolf Man” jemals das Wasser reichen konnte.

Zum einen macht der Mad Scientist-Ansatz durch fehlende wissenschaftliche Fachkompetenz aus dem ganzen Film eine Farce, was den Anspruch anbelangt. Walkers Film ist besserer Trash, nichts weiter, auch wenn er gerne mehr gewesen wäre. So geraten die Akteure bedingt durch die Suche nach der ominösen Blume, die nur durch Mondlicht wachsen soll (!), stets und allerorten in überzeichnete Dialoge der Klasse von einem der vielen “House”-Filme, die nur wenige Jahre später aus rein kommerziellen Zwecken auf der Kinoleinwand erschienen. Das beginnt bei der Einleitung, einer Expedition irgendwo in den Bergen Tibets, die wohl durch die nicht untertitelte Ortssprache Authentizität vortäuschen soll, welche aber bei der Ulkigkeit des Gezeigten verpufft. Auch sehr kurios sind die Schwächeanfälle beim Krackseln durch die tibetanischen Gebirge, die so offensichtlich auf das mechanische Erzeugen von Suspense ausgerichtet sind, dass es bald schon drollig ist. Man weiß, es geht in diesem Film um Werwölfe und soll davon ausgehen, dass Glendon und sein Komparse mitten in der Fremde einem solchen ausgeliefert sind - bleibt also jemand mit dem Fuß hängen und sagt “Ich glaube, irgendwas hält mich fest!”, sollen wir automatisch an den Werwolf denken. Das mag seinerzeit sogar funktioniert haben, heute tut es das nicht mehr.

Ähnlich trashig wirkt das komplette Laboratorium vor Ort, mitsamt allerlei Pflanzenwuchs und hochmoderner Technik. In diesen Passagen erscheint “Werewolf of London” wie eine vorausblickende Utopie im Stil von “Brave New World” - nur leider wird dieser Ansatz in optischer Hinsicht nicht durchgehalten. Bei den Festivitäten kommt ein realistisch-gesellschaftskritischer Unterton zur Geltung, bei den vollmondlichen Streunereien durch die Innenstadt wiederum kommt ein durch germanischen Expressionismus geprägter Stil zum Tragen. Das Produktionsdesign ist leider, was seine Kontinuität betrifft, eine einzige Katastrophe, zumal nichts von alledem so wundervoll durchdacht wirkt wie bei James Whales ersten beiden Frankenstein-Filmen, wo ja durchaus auch mehrere Stilrichtungen miteinander kollabierten, dies aber mit einer eigenen Handschrift. Hier hätte man sich aber gewünscht, dass etwas Einigung auf einen Stil zusammengekommen wäre - möglichst auf den utopischen, denn der wirkt trotz des Trashgehalts der Verbindung von Pflanzen und Gerätschaften wenigstens individuell und erfrischend.

Bezogen auf die Grundausrichtung wird mit zunehmender Laufzeit deutlich, weshalb das Setdesign in vielen Szenen überhaupt mit einem Biotop ausgestattet ist. Denn der erwähnte Aspekt der Einswerdung von Pflanze, Mensch und Tier kommt hier zur Geltung. Eine fleischfressende Pflanze wird als Kuriosum der Natur vorgeschickt, zeigt die gottlos wirkende Verschmelzung von Pflanzen- und Tierreich. Und mitten in die defensive Grundausrichtung wird der Film plötzlich frech, zeigt, wie eine reiche, aus gutem Hause stammende Lady abgestoßen, aber fasziniert das Spektakel beobachtet, wie die Pflanze eine Fliege verschlingt. Es mag also verpönt sein, das groteske Schauspiel, hingeschaut wird aber doch. Diese kleinen Spitzen gegen die Doppelmoral gewisser gesellschaftlicher Kreise hat mir doch recht gut gefallen, auch wenn die vielen Szenen um die Festaktivitäten effektiver hätten genutzt werden können, weil sich hier immer wieder Längen einschlichen. Aber ansonsten wirkte mir der Einbau mit der Pflanze doch recht geschickt, wenn wir einfach mal von der metaphorischen Bedeutung für die Lykanthropie ausgehen. Was den technischen Einbau betrifft, müssen wir natürlich wieder Abstriche machen, denn das Labor ist bei aller Liebe zur Optik total unfunktional und fördert die ein oder andere Frage nach der Logik zu Tage.

Im Szenenaufbau machen sich gleichzeitig ein paar seltsame Kuriositäten breit. Hier ist vor allem auf die beiden alten Saufweiber hinzuweisen, die ähnlich gestrickt sind wie die Alte aus dem Mob in “Frankensteins Braut”, ohne allerdings deren sinnvolle Funktion wiederholen zu können. Sie bauen einfach eine komödiantische Episode in den Film ein, die für sich betrachtet sogar sehr witzig ist... nur was das nun in diesem Zusammenhang für einen Sinn hat außer den pessimistischen Grundton zu deformieren, ist mir rätselhaft. Überhaupt wirkt der komplette Kneipenabschnitt so, als sei er durch “Der Unsichtbare” inspiriert worden, ohne nun wirklich in einen Werwolfsfilm zu passen.

In Sachen Charakterzeichnung der Hauptfigur bleibt der Londoner Werwolf leider ein unausgebildeter Rumpf im Vergleich zum Wolfsmenschen. Zwar bemüht sich das Drehbuch, mit Glendons Ehefrau (Valerie Hobson) und ihrem Jugendfreund, der eine bedrohliche Konkurrenz darstellen soll, ein spannungsreiches Beziehungsdreieck anzuzetteln, das mit der Werwolfsgeschichte zusammentreffen soll. Doch Henry Hulls Figur erfährt hierdurch einfach kaum irgendeine Art von Charakterzeichnung, die dem Zuschauer sein Schicksal begreiflich machen könnte. Es wird einfach nicht deutlich, was es bedeuten muss, in jeder Vollmondnacht als Bestie durch die Gegend zu streifen und in Abwesenheit des wirklichen Ichs Menschen zu töten - da kann Dr. Glendon noch so fanatisch mit der Blume experimentieren oder sich des Nachts in irgendwelche Zimmer einschließen lassen. Die Melancholie, die Lon Chaney Jr. so hervorragend zur Geltung bringen konnte als isolierter Rückkehrer, sie ist hier nicht spürbar.

Das kann in Teilen auch auf die Darstellung des Werwolfs zurückgeworfen werden, denn eine wirkliche Schizophrenie wird kaum deutlich. Dem Herrn wachsen zwar ein paar Haare und spitze Zähne am Untergebiss, aber ansonsten mag man kaum sagen, dass sich da viel geändert hat - die Gesamterscheinung bleibt zu human, wenn er sich einen Mantel überwirft und mal eben auf die Straße geht wie ein ganz normaler Bürger. Henry Hull hätte animalischer spielen müssen, um wirklich den Unterschied zu veranschaulichen. Dabei sieht die im Vergleich zum “Wolf Man” reduziertere Maske durch die menschlichen Züge in meinen Augen sogar ein wenig furchteinflößender aus. Jack P. Pierce, der für die Maske in “The Wolf Man” verantwortlich war, orientierte sich an Menschen, die an Hypertrichose leiden, einer Extrembehaarung über den ganzen Körper. Hulls Werwolfsmaske hingegen versucht weniger, die menschlichen Gesichtskonturen verdecken, sondern vielmehr sie zu deformieren. Zugleich birgt das für Hull die Möglichkeit, effektiver durch die Maske zu spielen als es Chaney unter seinem dichten Kunsthaar möglich war - doch leider nutzt er die Gelegenheit nicht. Der Wolf wirkt insgesamt zu menschlich. Die Verwandlungsszenen wurden größtenteils durch Schnittechniken gelöst. Die größte Szene findet in einer Saalhalle statt: Frei nach Hitchcocks “Cocktail für eine Leiche” läuft Hull an mehreren Pfeilern vorbei und jedesmal, wenn er hinter einem Pfeiler zum Vorschein kommt, ist die Verwandlung ein Stück weiter vorangeschritten. Vereinzelt findet die Transformation dann aber auch on screen per Überblendung statt.

Sicher bietet der “Werwolf von London” über 70 Minuten gute Unterhaltung, sieht man mal von einigen langatmigen Passagen im Abschnitt um die Gesellschaft ab. Walkers Film ist ohne Frage ausdrucksstark und bietet einiges an Wiedererkennungswert. Auch das subversive Spiel mit der religiösen Fraktion erfreut ebenso wie die kleinen gesellschaftskritischen Einschübe. Ein Klassiker vom Schlage des “Wolfsmenschen” kann er aber nicht sein, denn dazu bleibt alleine schon die Mad Scientist-Prämisse viel zu formelhaft. Aus ihr ergeben sich dann auch allerlei Schwächen: ein ausufernder, extremer Stilwechsel, wissenschaftliche Inkompetenz und vor allem ein Werwolf, dem man seine innere Zerrissenheit nicht ansieht. Als Ergänzung zum “Wolf Man” annehmbar - als gleichwertige Alternative wohl kaum.